Prof. Dr. Angela M. Kaindl,
Direktorin Kinderneurologie mit Epilepsiezentrum an der Charité
Prof. Dr. Angela M. Kaindl,
Direktorin Kinderneurologie mit Epilepsiezentrum an der Charité
Foto: Esther Haase
„Die beste Prävention von SUDEP ist aus meiner Sicht eine sehr gute Diagnostik und Therapie. Nur ein Patient, den man gut untersucht hat, mit dem man sich wirklich auseinandergesetzt und den man korrekt behandelt hat, hat eine Chance, sein SUDEP Risiko zu reduzieren.“
Angela Kaindl, Epileptologin
PROF. DR. ANGELA KAINDL
Prof. Dr. Angela Kaindl leitet die Kinderneurologie mit Epilepsiezentrum an der Charité in Berlin; sie ist außerdem Forschungsgruppenleiterin am Institut für Zell- und Neurobiologie der Charité. Die von ihr geführte Klinik gehört zu den größten neuropädiatrischen Zentren Deutschlands. Ambulant bzw. stationär behandelt werden jährlich mehr als 10.000 Kinder und Jugendliche. Etwa 80 Mitarbeiter*innen verschiedenster Berufsgruppen sind täglich für die Patient:innen und deren Familien im Einsatz. Prof. Dr. Kaindl und ihr Team legen Wert auf eine exzellente universitäre Krankenversorgung. Diese zeichnet sich durch einen hohen Innovationsgrad, Wissenschaftlichkeit und Menschlichkeit aus. Die vollständige Aufklärung der Patient:innen bzw. ihrer Eltern über sämtliche Aspekte einer Epilepsie ist Prof. Kaindl und ihrem Team ebenso wichtig wie eine sorgfältige Diagnostik und Therapie. „Nur aufgeklärte Patienten können informierte Entscheidungen treffen und Therapien mittragen“, sagt sie. „SUDEP gehört zu den Risiken, die alle Eltern und Angehörigen kennen sollten, um für sich selbst zu entscheiden, wie sie damit umgehen. Verantwortungsvolle Ärzte informieren ihre Patienten vollumfänglich über Risiken und Schutzmöglichkeiten.“ Seit Juni 2023 bietet die Charité ein SUDEP-Präventionsprogramm an. Hier werden Eltern und Angehörige in monatlichen Fortbildungskursen ausführlich über Therapien, Risiken und den Umgang damit informiert; außerdem wird ein Reanimationskurs angeboten, bei dem Rettungstechniken eingeübt werden.
Wie sieht eine sorgfältige DIAGNOSTIK bei Epilepsie aus?
Zu einer sorgfältigen Epilepsiediagnostik gehören
Der Anfallsbeschreibung durch den Patienten selbst und beobachtende Dritte kommt allergrößte Bedeutung für die therapeutische Entscheidung der Ärzte zu.
Merke: Je besser Betroffene und deren Familien epileptische Anfälle beschreiben und benennen können, umso besser!
Denn die genaue Beschreibung eines Anfalls kann Hinweise auf die Hirnregion geben, aus der ein epileptischer Anfall entstammt. Zudem können sich die Symptome je nach betroffener Region von motorischen Symptomen wie Versteifungen (tonisch) oder Zittern (klonisch) über nicht motorische Symptome wie Kribbeln (sensorisch), Halluzinationen mit Stimmen (auditiv), Gerüche oder Gesehenem (visuell) unterscheiden. Anfallsverdächtige Geschehnisse sollten daher möglichst umfassend dokumentiert werden – am besten in einem Anfallskalender. Optimal sind Handyvideos, gut sind außerdem E-Mails, Sprachnotizen, sonstige handschriftliche Notizen und Erinnerungsprotokolle. Hauptsache, es wird dokumentiert und dem Arzt weiterkommuniziert.
Wichtige Aspekte der Anfallsbeschreibung sind:
Anfälle können auch grob in fokal-beginnend und generalisiert-beginnend unterschieden werden. Bei fokal-beginnenden Anfällen ist der Beginn des Anfalls auf einen bestimmten Ursprung im Gehirn begrenzt, kann sich aber im weiteren Verlauf ausbreiten. Bei generalisiert-beginnenden Anfällen breitet sich die Störung so schnell auf das ganze Gehirn aus, dass beide Gehirnhälften und das Bewusstsein betroffen sind. Wenn der Beginn nicht beobachtet wurde oder nicht einzuordnen ist, sollte der Beginn des Anfalls als unbekannt bezeichnet werden. Wenn ein fokal beginnender Anfall im Verlauf zu einem generalisierten tonisch-klonischen Anfall übergeht, wird dieser als fokal zu bilateral tonisch-klonisch bezeichnet (früher wurde dies als sekundär generalisiert bezeichnet). Patient:innen und ihre Familien sollten versuchen, sich diese Beschreibungsformen anzueignen.
TIPP für Patienten: Werden Sie zum Experten:
Manchmal kann man als Laie ohne Vorbildung Anfälle nicht ohne weiteres erkennen. Denn diese haben viele Gesichter. Aufgrund der überragenden Bedeutung der Anfallserkennung für die Therapie können Sie sich an der Anfallsnomenklatur zur Klassifikation von epileptischen Anfällen nach ILAE (International League against Epilepsy) 2017 orientieren.
Absence
Plötzlich beginnende Unterbrechung von Aktivitäten, starrer Blick, typischerweise keine Reaktion auf Ansprache. Rasche Erholung.
Atoner Anfall
Plötzliche Verminderung oder Verlust des Muskeltonus
Automatismus
Mehr oder weniger koordinierte, ziellose, repetitive, motorische Aktivität bei üblicherweise beeinträchtigter Kognition und oft fehlender Erinnerung für das Ereignis.
Die Bewegungen ähneln solchen, die mutwillig eingeleitet werden. Sie können sogar inadäquate Fortsetzungen motorischer Aktivität vor Beginn des Anfalls beinhalten
Autonomer Anfall
Anderung der Funktionen des autonomen Nervensystems inkl. gastrointestinaler, kardiovaskulärer, pupillomotorischer, sudomotorischer (Schweißausbrüche), vasomotorischer, thermoregulatorischer (Hitzewallungen, Kältegefühl) Funktionen.
Emotionaler Anfall
Anfälle mit Emotionen, Stimmungsschwankungen, Angst, Freude, affektive Manifestationen von Emotionen wie Wut, Aggressionen, Lachen (gelastisch), Weinen (dakrvstisch)
Epileptischer Spasmus
Anfall bei dem es zur plötzlichen Beugung oder Streckung der körpernahen Arme und Beine und der Rumpfmuskulatur kommt, oft in Clustern mehrmals hintereinander.
Gelastischer Anfall
Lachanfall oder Kichern, meist ohne entsprechende affektive Tönung
Halluzinationen
Wahrnehmungen ohne entsprechende externe Stimuli mit visuellen, auditorischen, somatosensiblen, Geruchs- oder Geschmacksphänomen.
Hyperkinetischer Anfall
Agitierte Motorik z.B. aqitiertes Strampeln oder Radfahrbewegungen
Innehalten
Verhaltensarrest oder Sistieren (Arrest) von Bewegungen (Erstarren, Immobilisation)
Klonischer Anfall
Zuckungen, die rhythmisch sind und identische Muskelgruppen betreffen.
Kognitiver Anfall
Anfall bei dem eine Störung des Denkens oder assoziierter höherer kognitiver Fähigkeiten (räumliche Wahrnehmung, Erinnerungsvermögen) betroffen sind.
Lidmyoklonie
Zuckungen des Augenlids, ein- oder beidseitig, meist mit Blick nach oben. Kann mit kurzem Bewusstseinsverlust verbunden sein z.B. während einer Absence.
Motorischer Anfall
Anfall unter Einbeziehung der Muskulatur mit Zunahme (positiv) oder Minderung (negativ) der Muskelkontraktion und der sich daraus ergebenden Bewegungen.
Myoklonischer Anfall
Anfall mit plötzlicher, kurzer (<100 ms), unwillkürlicher einfacher oder mehrfacher Kontraktion von Muskeln oder Muskelgruppen.
Myoklonien unterscheiden sich von Kloni durch eine kürzere Dauer und fehlende Rhythmizität.
Myoklonisch-atoner Anfall
Generalisierter Anfall mit Myoklonie, die in atonischen Anteil übergeht (meist < 1s).
Myoklonisch-tonisch-klonischer Anfall
Anfall beginnt mit myoklonischen Zuckungen gefolgt von tonisch- klonischen Phänomenen.
Sensorischer Anfall
Wahrnehmung, die nicht durch adäquate Stimuli der Außenwelt verursacht ist.
Tonischer Anfall
Anhaltende Versteifung von Gliedmaßen bzw. Rumpf, anhaltende abnorme Körperhaltung.
Tonisch-klonischer Anfall
Anfall mit Beginn einer tonischen Komponente mit Muskelversteifung und dann Übergang in einen klonischen Anfall mit rhythmischen Zuckungen
Für die Diagnose epileptischer Anfälle ist die genaue Beschreibung des Ereignisses aus der Sicht des Patienten sowie aus der Perspektive der Beobachtenden hilfreich.
Die Schilderungen sind wichtig, da sie Hinweise auf den Entstehungsort des epileptischen Anfalls erbringen, die Abgrenzung von anderen ähnlichen Krankheitsbildern (z.B. Ohnmachten) erlauben und über die weiteren Therapiemöglichkeiten entscheiden. Danach sollte ein Patient gründlich körperlich-neurologisch untersucht werden.
EEG (Elektroenzephalogramm)
Mithilfe eines EEG kann die elektrische Aktivität des Gehirns gemessen und grafisch dargestellt werden. Beim EEG werden die Elektroden an bestimmten Stellen des Kopfes angebracht und über Kabel mit einem EEG-Gerät verbunden. Es gibt kurze ca. 20 min lange EEG-Ableitungen im Wachen (Wach-EEG) oder auch im Spontanschlaf (Spontanschlaf-EEG). Manchmal ist es notwendig, ein Langzeit-EEG-Monitoring durchzuführen, welches stationär über beispielsweise 48 h durchgeführt wird. Bei unauffälligen Routine-EEG Befunden kann es auch erforderlich sein, Anfälle zu provozieren, bspw. durch Flackerlicht (Photostimulation), rasche Atmung (Hyperventilation) und Schlafmangel (Schlafentzugs-EEG).
MRT (Magnetresonanztomographie), SPECT, MR-PET
Fast alle Patient:innen mit einer neu diagnostizierten Epilepsie erhalten zur Untersuchung der Ursache der Epilepsie eine MRT des Kopfes. Diese sollte insbesondere bei fokal-beginnenden Anfällen hochauflösend und mit speziellen Epilepsiediagnostik-Protokollen durchgeführt werden. Man sucht hiermit nach einer strukturellen Läsion, die möglicherweise epilepsiechirurgische Therapiemöglichkeiten eröffnet. Bei unauffälligen Befunden lohnt sich eine Reevaluation und/oder eine erneute Untersuchung im Verlauf. In Einzelfällen kann eine weitere Bildgebung z.B. mittels SPECT oder MR-PET unterstützend sein.
Genetische Diagnostik
Die genetische Diagnostik bei an Epilepsie erkrankten Personen ist inzwischen weit verbreitet und sinnhaft; die Kenntnis einer genetischen Ursache der Epilepsie kann die Therapie maßgeblich unterstützen. Eine genetische Diagnostik erfolgt mittels Chromosomenanalyse bzw. CGH-Array und Whole-Exom-Sequenzierung und sollte heute jeder Patient:in ermöglicht werden. Aus den Ergebnissen können sich therapeutische Konsequenzen ergeben, und sie ermöglichen oftmals eine bessere Beratung.
Blutuntersuchung und Nervenwasserpunktion
Liquoruntersuchungen erfolgen bei Epilepsiemanifestation in den ersten Lebensmonaten insbesondere mit der Frage nach Vorliegen einer Glukose-Transporterstörung oder einer anderen Stoffwechselerkrankung. Auch eine Infektion des Nervensystems kann hiermit aufgedeckt werden. Bei Hinweisen auf ein Autoimmungeschehen sollte auch bei älteren Kindern eine Liquoruntersuchung mit Frage nach Vorliegen von anti-neuronalen Autoantikörpern erfolgen. Hier ergeben sich möglicherweise andere Therapieoptionen, wie immunmodulatorische Therapien.
Blutuntersuchungen erfolgen regelhaft bei allen Patientengruppen und sollten regelmäßig wiederholt werden.
Neuropsychologische Untersuchung und weitere therapeutische Evaluationen.
Eine psychologische Untersuchung sollte generell erwogen werden. Außerdem empfiehlt die Leitlinie der ILAE auch eine Beobachtung von emotionalen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten. Da sich andauernde Anfälle und Medikamentennebenwirkungen negativ auf die kognitiven und emotionalen Funktionen auswirken können, werden individuelle Verlaufsuntersuchungen empfohlen. Unter anderem wird auf das Vorliegen von Konzentrationsstörungen, Ängsten, Depressionen geachtet. Wenn bspw. bei Kindern Entwicklungsverzögerungen beobachtet werden, kann eine Untersuchung durch weitere Therapeuten wie Physiotherapeutinnen, Ergotherapeut:innen, Logopäd:innen sinnvoll sein (siehe Komorbiditäten).
Strukturelle Ursache
Bei einer strukturellen Epilepsie findet sich mit Bildgebungsverfahren (im Regelfall: MRT) eine Strukturveränderung des Gehirns (= Läsion). Diese kann vorgeburtlich oder danach entstehen. Beispiele sind vor der Geburt entstandene Fehlbildungen des Gehirns wie z.B. fokal kortikale Dysplasien (FCD) oder der Gefäße, oder aber um die Geburt oder nach der Geburt auftretende Blutungen oder Schlaganfälle (Strake). Zudem können Neubildungen wie z.B. Tumoren ursächlich sein. Es muss natürlich eruiert werden, ob eine MRT-Strukturauffälligkeit überhaupt die Ursache der Epilepsie ist, d.h. ob diese mit dem Anfallsablauf und dem EEG-Befund korreliert.
Genetische Ursache
Bei genetischen Ursachen trägt wie bei vielen anderen Erkrankungen auch die genetische Veranlagung des einzelnen Menschen maßgeblich zur Manifestation oder zum Verlauf der Epilepsien bei. Solche Veränderungen können neu entstanden sein (de novo) oder aber durch ein oder beide Elternteile weitergegeben worden sein.
Infektiöse Ursache
Bei infektiösen Ursachen ist nicht eine akute Erkrankung gemeint, sondern Erkrankungen, bei denen eine Infektion einen langfristigen Schaden nach sich zieht und eine Epilepsie verursacht, bspw. Neurozystizerkose, Tuberkulose, sklerosierende Panenzephalitis als Folge einer Maserninfektion.
Metabolische Ursache
Bei stoffwechselbedingten (metabolischen) Epilepsien ist ein Stoffwechselweg des Körpers gestört, welcher zu epileptischen Anfällen führt.
Immunvermittelte Ursache
Bei immun-vermittelten Ursachen sind kleine Abwehrstoffe des Körpers, die Antikörper, fälschlicherweise gegen den eigenen Körper gerichtet und beeinflussen die Netzwerke im Gehirn. Diese sogenannten Autoantikörper können mit Immuntherapien, wie Steroiden oder Blutwäsche (Immunabsorption, Plasmapherese), behandelt werden.
„Mein Tipp an Eltern, deren Kind weiterhin Anfälle hat trotz antikonvulsiver Therapie: Geben Sie sich damit nicht zufrieden. Sondern suchen Sie weiter. Auch vielleicht nach der Ärztin, dem Arzt, die weiter in die Tiefe gehen, die sich nochmal alles anschauen, die die bisherigen diagnostischen Schritte genau durchforsten und vielleicht noch einmal eine bessere Therapie bringen.“