DER BESTE SCHUTZ GEGEN SUDEP:

EINE GESELLSCHAFT,
DIE WEISS, WAS DAS IST

DER BESTE SCHUTZ GEGEN SUDEP:

EINE GESELLSCHAFT,
DIE WEISS, WAS DAS IST

Wissen wir als Gesellschaft genug über Behandlung und Risiken bei Epilepsie?

Über Epilepsie, Epilepsietherapie und Epilepsieursachen ist den meisten Menschen nur wenig bekannt. Man weiß, dass es die Erkrankung gibt – das ist es aber häufig auch. Dabei handelt es sich bei Epilepsie um eine sehr häufige Erkrankung: Etwa 3-4% aller Menschen erhalten im Laufe ihres Lebens die Diagnose. Es handelt sich um eine Volkskrankheit, über die man genauso viel wissen sollte wie über Herzkrankheiten, Diabetes Bluthochdruck oder Krebs. Und dieses Wissen müssen nicht nur die Patienten selbst haben. Sondern auch ihr soziales Umfeld, die Gesellschaft als Ganzes.

Obwohl sehr viele Menschen direkt oder indirekt mit Epilepsie zu tun haben – die Betroffenen selbst, ihre Angehörigen und Freunde, ihre Lehrer und Trainer, ihre Mitschüler und Kollegen, ihre Ärzte und das Pflegepersonal –, wissen die meisten „fast nichts“ über Epilepsie – selbst Menschen, die sich aufgrund ihrer beruflichen Ausrichtung oder ihres Bildungsgrades in vielen Bereichen gut auskennen. Nur den wenigsten ist beispielsweise bekannt, dass eine besondere Ernährungsweise in vielen Fällen epileptische Anfälle verhindern kann – wie ein Medikament, aber ganz ohne Nebenwirkungen. Dass es epileptische Anfälle gibt, die sich lediglich durch wenige Sekunden „Abwesenheit“ oder einen „Lachanfall“ zeigen. Oder dass man aufgrund eines anfallsbedingten Atemstillstands (SUDEP) tatsächlich sterben kann.

„Über Epilepsie spricht man nicht“, sagten uns Ärztinnen und Ärzte, die Menschen mit Epilepsien behandeln – anders als über andere schwere chronische Erkrankungen. Das ist nicht gut. Und ist Folge einer jahrhundertelangen, von starken Vorurteilen geprägten Diskriminierung. Das Nicht-Reden über moderne Therapiemöglichkeiten, Diagnostik und schwerwiegende Risiken der Erkrankung wirken sich leider unmittelbar auf den Therapieerfolg aus. Und auf das Überleben von Menschen: denn gerade plötzliche anfallsbedingte Todesfälle (SUDEP) lassen sich häufig durch einfache Vorsorgemaßnahmen verhindern. Die Kenntnis über Risikovorsorge ist daher für alle Betroffenen und ihr Umfeld absolut essenziell. Durch das Schweigen entstehen hier Aufklärungs- und Versorgungslücken.

 „Wenn ich jeden Patienten über SUDEP aufklären, sind 30 Jahre Kampf für gesellschaftliche Teilhabe für die Katz“, hat uns kürzlich ein seit vielen Jahren engagierter Kinderepileptologe gesagt. Es wird befürchtet, dass die jahrzehntelang mühsam errungenen Rechte von Menschen mit Epilepsien in Gefahr seien, wenn offen über alle Risken gesprochen wird. Kinder mit Epilepsien dürften dann nie mehr auf Klassenreise fahren, wird behauptet. Oder nicht mehr Schwimmen gehen. Oder nicht mehr bei Freunden übernachten. Weil sich keine Aufsichtsperson den Risiken aussetzen würde. Obwohl es sich hierbei um bloße Befürchtungen handelt, haben sie doch einen sehr realen Einfluss auf die Arzt-Patienten-Kommunikation.

Wir sagen: Auch das „gut gemeinte“ Verschweigen von Todesrisiken verbessert die Teilhabe der Betroffenen nicht. Vielmehr diskriminiert es sie. Indem es sie vermeidbaren Todesrisiken aussetzt. Bereits aus Rechtsgründen darf man Menschen das Wissen um ihre Risken nicht vorenthalten. Erst recht ist es ethisch und gesellschaftlich geboten, Menschen keinen essentiellen Informationen zu versagen.

Unsere Gesellschaft kann mit diesem Wissen umgehen. Das hat sich auch bei anderen Erkrankungen gezeigt. Und sie hat Werkzeuge, um Risiken zu begegnen. Es gibt Anfallsdetektionsgeräte. Es gibt Ansprüche auf einen Begleiter beim Schulschwimmen. Es gibt Informationsmaterialien für Schulen und Vereine. Und es gibt Laienretterkurse, damit man weiß, wie man im Notfall handeln kann. All dies müssen wir als Gesellschaft wissen. Dort, wo es noch keine Lösungen gibt, muss man sie finden. Nicht-Wissen ist keine Lösung. Vielmehr brauchen wir Handlungsfähigkeit. Über Epilepsie zu sprechen, ist der erste Schritt.

Wir wollen diese Chance. Für alle. Damit Schicksale wie das von Oskar verhindert werden können.

Hat man kein Wissen über eine Gefahr und diese Gefahr trifft einen, dann hat man noch nicht mal eine Chance.”

Inken Hose, Direktorin der Gelehrtenschule des Johanneums Hamburg

Wir wollen diese Chance. Für alle. Damit Schicksale wie das von Oskar verhindert werden können.

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„Für uns spielte Oskars Epilepsie überhaupt keine Rolle. Und wir haben auch gar nicht gewusst, welche Auswirkungen das haben könnte. Erst als Oskar 2019 plötzlich gestorben ist, sind wir uns der Auswirkungen, die das haben kann, bewusst geworden.

Alle sollten über Epilepsie wissen, dass es ernst ist. Es ist nicht einfach nur eine Kleinigkeit, die man einfach im Leben hat. Sondern es kann wirklich Familienmitglieder und Geliebte aus dem Leben reißen, und zwar plötzlich. SUDEP ist eine reelle Gefahr. Über die man nicht aufgeklärt wird. Und es ist superwichtig, dass man das weiß.“

Anna (17), Abiturientin

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„Ich habe das erste Mal von SUDEP erfahren, als Cameron Boyce gestorben ist. Als ich das gelesen habe ist mir kurz das Herz stehen geblieben. Weil ich natürlich direkt an meinen Bruder denken musste. Und ich gemerkt habe, wie ernst dieses Thema ist. Mein Bruder Justus hat Epilepsie seit 8 Jahren.“

Anne, 22, Studentin

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„Gerade die Betroffenen und die Leute, die den Betroffenen nahe sind, müssten besser informiert werden. Dass da eben dieses Risiko besteht, SUDEP. Und das wäre doch schon einmal ein super erster Schritt.“

Carlo, 17, Abiturient

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„Mir ist klar geworden, SUDEP darf eigentlich nie wieder passieren. Wir müssen rechtzeitig lernen, mit einer Extremsituation, mit einer hochgefährlichen Situation für einen Menschen umzugehen. Um dann richtig reagieren zu können.“

Dr. Martin Buchholz, Gründer der Herzretter-Initiative (herzretter.de)

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„Das Wort SUDEP habe ich zum ersten Mal von Oskars Eltern gehört, als sie mir berichteten, was geschehen war. Deshalb finde ich es so wichtig, über SUDEP aufzuklären. Damit Betroffene und auch ihre Familien Bescheid wissen, Vorkehrungen treffen können und handeln können, wenn diese Gefährdung vorhanden ist. Das können sie ohne Wissen nicht. Handlungssicherheit setzt Wissen voraus.“

Inken Hose, Direkorin der Gelehrtenschule des Johanneums Hamburg

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„Von SUDEP haben wir erst relativ spät erfahren. Aufgeklärt worden sind wir im Krankenhaus damals über das Thema SUDEP nicht. Wir haben es selber gelesen, in Büchern. Mittlerweile gibt es ja doch viele Überwachungssysteme oder Vorsorgemaßnahmen, die man als Familie treffen kann, damit das nicht passieren sollte.“

Nina, Mutter von Justus

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„Ich bin 58 Jahre alt und habe seit meinem 7 Lebensjahr eine genetische Epilepsie mit schlafgebundenen Anfällen. Ausschließlich schlafgebundenen Anfälle. Von SUDEP habe ich erst vor 2-3 Jahren erfahren.“

Peter, 58, lebt mit Epilepsie

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„Tabea hatte auch schon Anfälle mit 4 bis 5 Minuten Atemstillstand. Ich würde mir wünschen, dass Ärzte da wirklich sehr detailliert aufklären. Dass es auch eine Wahrscheinlichkeit gibt, an einem epileptischen Anfall zu sterben. Ich weiß es selbst als Krankenschwester. Weil man ein bißchen vom Fach ist. Aber genau dadurch merke ich umso mehr, dass die Ärzte das völlig unter den Tisch kehren.“

Stephanie, Mutter von Tabea

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„Tabea hatte auch schon Anfälle mit 4 bis 5 Minuten Atemstillstand. Ich würde mir wünschen, dass Ärzte da wirklich sehr detailliert aufklären. Dass es auch eine Wahrscheinlichkeit gibt, an einem epileptischen Anfall zu sterben. Ich weiß es selbst als Krankenschwester. Weil man ein bißchen vom Fach ist. Aber genau dadurch merke ich umso mehr, dass die Ärzte das völlig unter den Tisch kehren.“

Milka, Moderatorin


Foto: Esther Haase

Medizinische Informationen zu Epilepsie und SUDEP

Analyse des Anfallsgeschehens

 

Der Anfallsbeschreibung durch den Patienten selbst und beobachtende Dritte kommt allergrößte Bedeutung für die therapeutische Entscheidung der Ärzte zu.

Merke: Je besser Betroffene und deren Familien epileptische Anfälle beschreiben und benennen können, umso besser!

Denn die genaue Beschreibung eines Anfalls kann Hinweise auf die Hirnregion geben, aus der ein epileptischer Anfall entstammt. Zudem können sich die Symptome je nach betroffener Region von motorischen Symptomen wie Versteifungen (tonisch) oder Zittern (klonisch) über nicht motorische Symptome wie Kribbeln (sensorisch), Halluzinationen mit Stimmen (auditiv), Gerüche oder Gesehenem (visuell) unterscheiden. Anfallsverdächtige Geschehnisse sollten daher möglichst umfassend dokumentiert werden – am besten in einem Anfallskalender. Optimal sind Handyvideos, gut sind außerdem E-Mails, Sprachnotizen, sonstige handschriftliche Notizen und Erinnerungsprotokolle. Hauptsache, es wird dokumentiert und dem Arzt weiterkommuniziert.

Wichtige Aspekte der Anfallsbeschreibung sind:

  • Datum, Tageszeit, Schlaf- oder Wachzustand
  • Dauer
  • Auslöser wie Fieber, Angst, Hunger, Computer
  • Anfallsbeginn: plötzlich oder langsam, Vorgefühl
  • Anfallsende: plötzlich oder langsam
  • Bewusstseinslage im Anfall: Reagiert das Kind im Anfall? Kann sich das Kind an Anfall erinnern?
  • Augenstellung, Blickwendung, geöffnete oder geschlossene Lider
  • Mundbewegungen wie Schmatzen, Lecken, Saugen
  • Automatismen wie Schmatzen, Nesteln
  • Zuckungen: einseitig oder beidseitig
  • Sprache im oder nach dem Anfall: Sprechen, Verständliches Sprechen, Sprachverständnis
  • Komplexere Bewegungen wie Tretbewegungen der Beine oder Ruderbewegungen der Arme
  • Körperspannung schlaff oder steif
  • Hautveränderungen wie Rötung, Blässe, Blaufärbung
  • Atmung: rasche Atemzüge? fehlende Atmung
  • Speichelfluss? Schaum vor dem Mund
  • Unwillkürlicher Urin- und/oder Stuhlabgang
  • Erbrechen
  • Verletzungen wie Zungenbiss
  • Unterbrechbarkeit
  • Zustand nach Anfall: Sprechstörung? Dämmerzustand? Nachschlaf? Reorientierungsphase-Dauer
  • Erinnerung an den Anfall
 
 

Anfälle können auch grob in fokal-beginnend und generalisiert-beginnend unterschieden werden. Bei fokal-beginnenden Anfällen ist der Beginn des Anfalls auf einen bestimmten Ursprung im Gehirn begrenzt, kann sich aber im weiteren Verlauf ausbreiten. Bei generalisiert-beginnenden Anfällen breitet sich die Störung so schnell auf das ganze Gehirn aus, dass beide Gehirnhälften und das Bewusstsein betroffen sind. Wenn der Beginn nicht beobachtet wurde oder nicht einzuordnen ist, sollte der Beginn des Anfalls als unbekannt bezeichnet werden. Wenn ein fokal beginnender Anfall im Verlauf zu einem generalisierten tonisch-klonischen Anfall übergeht, wird dieser als fokal zu bilateral tonisch-klonisch bezeichnet (früher wurde dies als sekundär generalisiert bezeichnet). Patient:innen und ihre Familien sollten versuchen, sich diese Beschreibungsformen anzueignen.

TIPP für Patienten: Werden Sie zum Experten:

MManchmal kann man als Laie ohne Vorbildung Anfälle nicht ohne weiteres erkennen. Denn diese haben viele Gesichter. Aufgrund der überragenden Bedeutung der Anfallserkennung für die Therapie können Sie sich an der Anfallsnomenklatur zur Klassifikation von epileptischen Anfällen nach ILAE (International League against Epilepsy) 2017 orientieren.

„Mein Tipp an Eltern, deren Kind weiterhin Anfälle hat trotz antikonvulsiver Therapie: Geben Sie sich damit nicht zufrieden. Sondern suchen Sie weiter. Auch vielleicht nach der Ärztin, dem Arzt, die weiter in die Tiefe gehen, die sich nochmal alles anschauen, die die bisherigen diagnostischen Schritte genau durchforsten und vielleicht noch einmal eine bessere Therapie bringen.“

Prof. Dr. med. Angela M. Kaindl, Direktorin des Deutschen Epilepsiezentrums für Kinder und Jugendliche an der Charité – Universitätsmedizin Berlin – Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Neurologie – Abteilung Neuropädiatrie des Sozialpädiatrischen Zentrums